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EINE REPORTAGE VON RON WEIMANN

 

 

Es ist noch dunkel als ein großer Transporter aus dem nordrhein-westfälischen Heinsberg sich in Bewegung setzt. Seine kostbare Fracht, bestehend aus einer Tonne dringend benötigter Hilfsgüter, ist beeindruckend: warme Kinderkleidung für den bevorstehenden Winter, eine Fülle von Spielzeugen für die vielen Kinder vor Ort und beinahe 40 Feuerlöscher zur Prävention und Gewährleistung der Sicherheit.

Punkt 7 Uhr morgens beginnt der Hilfstransport seine lange Reise.

Am Steuer des Fahrzeugs sitzt Michael Dohmen, der Schulleiter der Janusz-Korczak-Schule, begleitet von seinem tatkräftigen Onkel Hubert Beckfeld. Gemeinsam sind sie auf einer Mission von großer Bedeutung unterwegs – eine fast 24-stündige Autofahrt durch Österreich und Ungarn, um schließlich in Rumänien anzukommen. Das Ziel: die Kinderhilfe Siebenbürgen.

Michael Dohmen schaut besorgt durch die Windschutzscheibe in die Ferne, während der Transporter mit seiner wertvollen Ladung Kilometer um Kilometer hinter sich lässt: „Die ungarischen Grenzschützer machen immer wieder Probleme, wo keine sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir unsere Kisten und Kartons ausladen müssen. Es sind nur Hilfsgüter!“ Sein Onkel versucht zu beruhigen: Das kriegen wir schon hin, das haben wir immer.“ Beide Männer sind erfahren; es ist ihre sechste Reise nach Osteuropa.

Die Fahrt durch die folgende Nacht zieht sich, die Strecke ist in der Dunkelheit eintönig. Fahrer und Beifahrer sind müde, wechseln sich regelmäßig ab, jeder hat den anderen genau im Blick. Sie kennen sich, wissen genau, wenn der Partner Probleme hat wach und aufmerksam zu bleiben. Die Gefahren der Übermüdung und des Sekundenschlafs sind ihre ständigen Begleiter. Doch irgendwann zeigt sich die Morgensonne am Horizont, die Gespräche werden lebendiger, ihr Ziel ist fast erreicht.

Es ist 9 Uhr, dichte Nebelschleier hängen in den nicht weit entfernten Ausläufern der Nord-Westkarpaten, als der Hilfstransport aus Heinsberg die Zentrale der Kinderhilfe Siebenbürgen in Sibiu, eine der größten Städte des Landes, erreicht.

Beide schütteln ihre Müdigkeit und Erschöpfung ab, als Alex Kanap sie herzlich begrüßt und umarmt. Kanap ist Mitarbeiter der Kinderhilfe Siebenbürgen und organisiert sofort die Entladung der Hilfsgüter. Wenige Minuten später sitzen beide Männer wieder in ihrem Fahrzeug und fahren los, Alex Kanap fährt voraus. Das Ziel ist eine Roma-Siedlung am Stadtrand von Sibiu. Nur wenige hundert Meter fahren sie aus den Vororten von Sibiu, bis sie auf Feldwege stoßen, die sie zu einer kleinen Ortschaft führen. Das moderne Europa verschwindet nach wenigen hundert Metern unasphaltierter Wege. Es ist eine andere Welt, die plötzlich vor ihnen steht und ihre Türen öffnet.

Es ist ungewöhnlich warm an diesem Tag, Staub liegt in der Luft, als der weiße Transporter irgendwann an einer namenlosen Straße hält. Die beiden Heinsberger steigen aus und finden sich plötzlich von einer Gruppe neugieriger Kinder umringt, die sie mit großen Augen neugierig beobachten. Michael Dohmen und Hubert Beckfeld gehen zur Ladefläche, öffnen Pakete und verteilen sofort Süßigkeiten an die vielen Kinder. Das Eis ist sofort gebrochen und lautes Kinderlachen ist zu hören. Ich greife zur Kamera und richte sie auf die momentane Szene, um die bewegenden Augenblicke festzuhalten. Zahlreiche Jungen und Mädchen greifen erstaunt nach den Leckereien und öffnen die bunten Tüten voller Vorfreude. Eine junge Frau mit einer geistigen Behinderung umarmt die Süßigkeiten zärtlich, als wären sie ein kostbarer Schatz, und wiegt ihren Körper behutsam hin und her. Ich nehme meine Kamera herunter und wende mich der kleinen Siedlung zu. Und während ich durch die von Schlaglöchern durchsetzte, staubige Straße gehe und die einfachen Steinhütten sowie die kleinen Holzbauten mit Wellblechdächern am Wegesrand betrachte, wird die Kluft zwischen diesem Bild und dem modernen Sibiu am Horizont schmerzlich deutlich. Hier, in den Slums von Sibiu, tritt Europa in seiner rauen Realität zutage, denn bittere Armut herrscht in diesen Vierteln. Es gibt kaum Zugang zu sauberem Wasser, auch die Stromversorgung ist ein ernstes Problem.

 

Fehlende Elektrizität bedeutet, dass einfache alltägliche Aufgaben wie Kochen, Heizen, Beleuchtung und die Nutzung elektronischer Geräte zu einer echten Herausforderung werden. Die Bewohner der Slums sind dann auf improvisierte Lösungen angewiesen, wie etwa den Einsatz von selbstgebauten Öfen. „Und das kann lebensgefährlich werden“, erzählt Michael Dohmen, der als Hauptbrandmeister bei der lokalen Feuerwehr in Heinsberg ehrenamtlich tätig ist. Er schildert den Brand einer kleinen Unterkunft in den Slums von Sibiu, wo zwei seiner Patenkinder verletzt worden sind. „Kein Wasser, keine Feuerwehr, unprofessionelle Öfen in kleinen beengten Räumen die meist aus Holz bestehen, ergeben eine extrem hohe Brandlast. Und dazu Menschen, die aufgrund des Alters oder einer Erkrankung nicht mehr fliehen können. Es gibt Dinge, die können wir nicht verhindern, aber bestehendes Leid zu lindern, das können wir schon,“ sagt er und hievt lächelnd die ersten Feuerlöscher von der Ladefläche.

Vor der kleinen Roma-Siedlung sind nun alle 40 Feuerlöscher in einer Reihe aufgestellt. Michael Dohmen nimmt sich die Zeit, um den Bewohnern die Funktionsweise dieser lebensrettenden Geräte zu erklären, während Alex Kanap gleichzeitig seine Worte ins Rumänische übersetzt, damit alle Bewohner der Siedlung von diesem lebenswichtigen Wissen profitieren können. „Es ist wirklich kinderleicht“, erklärt der Hauptbrandmeister lachend und ruft einen kleinen Jungen mit rotem Pullover zu sich. Scheu und vorsichtig kommt er gemeinsam mit seiner Mutter nach vorne. Der kleine Junge starrt auf den Feuerlöscher, der vor ihm steht, und versucht, seine anfängliche Schüchternheit zu überwinden. Seine Mutter lächelt ermutigend und legt ihre Hand beruhigend auf seine Schulter. Der Heinsberger zeigt auf die verschiedenen Teile des Feuerlöschers und erklärt geduldig: „Siehst du, hier ist der Sicherheitsstift. Du musst ihn zuerst herausziehen.“ Der Junge schluckt schwer, nimmt den Stift und zieht ihn heraus. Ein zischendes Geräusch entweicht dem Feuerlöscher, als der Hauptbrandmeister den kleinen Jungen anweist, den Hebel zu betätigen. Der Junge zögert einen Moment, doch dann drückt er entschlossen den Hebel nach unten. Ein kräftiger weißer Strahl Pulver schießt aus der Düse und trifft ein unsichtbares „Feuer“ vor ihnen. Die Augen des Jungen leuchten vor Begeisterung, als er realisiert, dass er gerade ein imaginäres Feuer bekämpft.

Jetzt gilt es, den optimalen Standort für die Löscher auszuwählen. Die Hilfskräfte aus Heinsberg laufen die gesamte Straße entlang, inspizieren jedes Gebäude gründlich, um den geeignetsten Standort für die Feuerlöscher ausfindig zu machen. Mit Bedacht werden sie in unmittelbarer Nähe der gefährdeten Orte kindersicher platziert.

Nach getaner Arbeit wirken die beiden Männer zufrieden, doch sie reden kaum. Das Schweigen wird von der Erinnerung an die beengten Hütten und das Elend, das sie dort erleben, durchzogen. Der Anblick der ärmlichen Verhältnisse lässt sie nicht los. Stille und Sprachlosigkeit begleiten sie, während sie in ihr Fahrzeug steigen, die Slums für den heutigen Tag verlassen und ihr Hotel für die kommende Nacht aufsuchen. Die schier unüberbrückbaren Gegensätze zwischen der scheinbar ausweglosen Situation in den Roma-Siedlungen und dem vermeintlich luxuriösen Ambiente eines bescheidenen und einfachen Hotelzimmers könnten kaum deutlicher sein. Europa zeigt sich heute in einem Kontrast, der kaum gegensätzlicher sein könnte.

Der nächste Tag bricht langsam an. Es ist 10 Uhr, die Morgensonne wärmt die kühlen
Nachttemperaturen langsam auf, als der nächste arbeitsreiche Tag für die Helfer beginnt. Sie steuern mit ihrem Fahrzeug durch den geschäftigen Berufsverkehr Sibius eines der sieben Kinderhäuser an, die die Kinderhilfe Siebenbürgen unter der Leitung von Jenny Rasche in den vergangenen Jahren langsam aber stetig aufgebaut hat. Hier, an diesem Ort, ist etwas Besonderes entstanden – eine Zufluchtsstätte des Mitgefühls und der Hoffnung. Kinder, oft aus schwierigen Verhältnissen, finden hier eine Chance auf ein erfülltes Leben.

Inmitten von Kinderlachen und herumliegenden Spielzeug empfängt Jenny Rasche die beiden Männer herzlich, sie sind im Laufe der Zeit Freunde geworden. In der Hand hält sie ihr Mobiltelefon, es ist ihr ständiger Begleiter, denn im Notall muss sie erreichbar sein. Doch heute hat sie sich bewusst Zeit genommen, um als Übersetzerin bei den lebenswichtigen Erste-Hilfe-Kursen zu assistieren, die von Michael Dohmen für die Mitarbeiter der Kinderhäuser geleitet werden. Hier, zwischen den bunten Wänden, wo das Lachen der Kinder den Alltag bestimmt, nehmen die zukünftigen Ersthelfer ihren Platz ein. Jenny übersetzt die Informationen für die engagierten Mitarbeiter, die sich um das Wohl der Kinder in den Kinderhäusern kümmern. Die Atmosphäre ist entspannt, aber die Ernsthaftigkeit des Themas ist spürbar.

Dohmen ist erfahrener Ersthelfer. Mit ruhiger Stimme erklärt er den Angestellten die Wichtigkeit, wie sie in Notsituationen Ruhe bewahren und wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen können. Im Rahmen des Kurses wird auch die Versorgung von Verletzungen wie Schnittwunden, Prellungen, Verbrennungen und Knochenbrüchen behandelt. Dabei vermittelt er nicht nur theoretisches Wissen, sondern sorgt auch dafür, dass die Angestellten praktische Übungen durchführen, um sicherzustellen, dass sie in der Lage sind, ihr Wissen in echten Notsituationen anzuwenden. Während des Kurses teilen viele Teilnehmer persönliche Geschichten und Erfahrungen aus der Vergangenheit. Es sind Geschichten von Unfällen, in denen die Umstände bedauerlicherweise nicht gut ausgingen, Geschichten, die sie nicht mehr vergessen können. Dohmen hört aufmerksam zu, denn er kennt diese Geschichten allzu gut.

 

Am späten Nachmittag war es dann soweit, alle Teilnehmer konnten ihre Urkunden in Empfang nehmen. Aber jetzt hiess es auch Abschied zu nehmen, denn die Arbeit der beiden Heinsberger war vorerst zu Ende. Mit den frisch ausgestellten Erste-Hilfe- Zertifikaten in den Händen und dem Lächeln der Kinder in den Herzen verabschieden sich Michael Dohmen und Hubert Beckfeld von Jenny Rasche und den engagierten Mitarbeitern der Kinderhilfe Siebenbürgen. In diesen intensiven Tagen hatten sie nicht nur wichtige lebensrettende Fähigkeiten vermittelt, sondern auch tiefe Verbindungen geknüpft und eine Brücke zwischen verschiedenen Welten geschlagen. Die Mission der Menschlichkeit, die in Heinsberg begonnen und sie durch Österreich, Ungarn und bis in die Roma-Siedlungen Rumäniens geführt hat, war erfolgreich.

Während der Transporter den Heimweg antritt und langsam die Straßen von Rumänien hinter sich lässt, erinnern sich die beiden Männer an die Momente, in denen sie den Kindern in den Roma-Siedlungen ein Lächeln auf das Gesicht zauberten, als sie Süßigkeiten verteilten und die lebenswichtigen Feuerlöscher verteilten. Michael sitzt am Steuer, übernimmt die erste Etappe der bevorstehenden langen Heimreise. Ich frage ihn, wie sein Wunsch für die nächste Reise nach Rumänien aussehen würde. Er betrachtet den bevorstehenden Sonnenuntergang am Horizont lange und nachdenklich. Schließlich richtet er seinen Blick kurz auf mich und sagt lächelnd: „Einen 40-Tonner mit Feuerlöschern vollzukriegen, das wäre schon toll.“

Fotos / Bericht
Ron Weimann

By CUH