Eine Reportage von Ron Weimann
04. August 2025
Der Flieger setzt hart auf. Ich bin zurück in Rumänien. Als ich die Gangway hinabsteige, schlägt mir die Hitze entgegen – trocken, stechend. In Osteuropa klettern die Temperaturen derzeit weit über 35 Grad. Es ist meine fünfte Reise in diese Stadt – in eine der ältesten und schönsten Rumäniens. 2007 war Sibiu Kulturhauptstadt Europas, gemeinsam mit Luxemburg. Und auch heute wirkt sie wie ein Schaufenster: gepflegt, geschichtsträchtig, voller Bewegung. Der Tourismus boomt, Cafés füllen sich bis in die Nacht.
Ich gehe zügig durch den modernen Flughafen. Helles Licht, kühle Luft, sterile Wege. Draußen wartet ein Taxifahrer im Schatten seines Wagens. Ich hebe die Hand. Er nickt und öffnet mir den Kofferraum. Ich nenne mein Ziel und er runzelt die Stirn: „Dort wollen Sie wirklich hin?“ „Ja“, antworte ich. „Genau dorthin.“ Als wir ankommen, reicht er mir seine Nummer. „Ich warte noch fünf Minuten auf Sie. Rufen Sie an.“ Ich habe das günstigste Hotel gewählt. Nicht aus Geiz – sondern aus einem Bauchgefühl heraus. Ich betrete das kleine Hotel. Den Fahrer vergesse ich. Ich habe mein Ziel gewählt.
Ich weiß, wohin mich diese Reise führen wird: in die Slums von Sibiu, zu Menschen, die oft nichts haben außer dem, was sie am Körper tragen. Ich will abends nicht in eine Welt zurückkehren, die so sehr im Kontrast steht zu dem, was ich tagsüber sehe. Doch ich weiß auch, egal welches Hotel, welche Unterkunft ich buchen würde – der starke Kontrast zwischen Tag und Nacht wird immer unüberbrückbar sein.

Es ist nicht einfach, über Armut zu schreiben – und noch schwerer über eine Armut, die so sehr mit Herkunft, Geschichte und Ausgrenzung verbunden ist. Die Roma in Rumänien leben oft am äußersten Rand der Gesellschaft. Viele haben keine Stimme, keine Lobby – und kein Zuhause im klassischen Sinn. Doch sie haben Namen. Geschichten. Hoffnungen. Ich durfte mit einem Team der Kinderhilfe Siebenbürgen unterwegs sein, das zuhört, hilft und bleibt. Dies ist ihre Geschichte – und die vieler anderer.
Der nächste Morgen beginnt still, ruhig aber effizient. In einem kleinen Besprechungsraum sitzen sie schon am Tisch – die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von Jenny Rasches Team. Ich setze mich dazu. Namen werden genannt, Aufgaben besprochen, die Lage geprüft. Jeder Satz ist kurz, konzentriert. Es ist keine Routine, was hier geschieht – es ist ein Notfallmanagement, nur eben im Alltag der Armut. Alex, Tabita, Giorgiana, Zsolt und Raluca – sie tragen Verantwortung, jeder auf seine Weise. Tabitha wird Jenny heute bei wichtigen Amtsgängen begleiten, während Giorgiana und Raluca als Team losziehen. Das dritte Team fährt heute nach Agnita – ich darf sie begleiten. Ein letzter Tag in einer Aufgabe, die in ihrer Dimension kaum fassbar ist.
In nur sieben Tagen haben drei Teams über 2.400 Kinder in 550 Familien erfasst. Körpergrößen, Schuhgrößen, Konfektionsgrößen – nüchterne Daten, hinter denen sich ein sehr menschlicher Gedanke verbirgt: Weihnachten. Noch weit entfernt auf dem Kalender, aber schon jetzt ganz nah im Kopf. Denn die Geschenke der Paten sollen passen. Nicht nur äußerlich. Auch im Innersten. Sie sollen sagen: Du bist gesehen. Du bist nicht vergessen.
Auf schmalem Grat
Wir fahren los. Die Stadt gleitet vorbei, wird kleiner, stiller. Dann öffnen sich die Hügel – grün, sanft, mit Schilf und weiten Feldern. In den Dörfern nisten Störche auf Strommasten und Dächern – Bilder aus einem Reiseführer für Touristen. Aber der Schein trügt.
Der erste Halt führt uns an den Rand eines Dorfes. Vor einer kleinen, bröckelnden Hütte sitzt eine alte Frau im Rollstuhl. Halbseitig gelähmt, allein. Als sie uns sieht, hebt sie langsam den Kopf – und lächelt. Ein Moment, der alles sagt. Und doch fehlen mir die Worte.
Seit ihr Mann gestorben ist, lebt sie hier ohne Hilfe. Nur eine Nachbarin schaut gelegentlich vorbei. 100 Euro Rente im Monat – zu wenig, um zu leben. Und zu viel, um Unterstützung zu bekommen. Jenny und ihr Team kommen regelmäßig. Sie bringen Medikamente. Lebensmittel. Zeit. Und vor allem: das Gefühl, nicht vergessen zu sein. Als wir wieder ins Auto steigen, bleibt es still. Niemand will erklären, was sich ohnehin nicht erklären lässt.
Ein paar Kilometer weiter: die nächste Familie.
Eine Hütte, notdürftig zusammengezimmert aus Brettern, Planen und Wellblech. Es sieht aus wie eine provisorische Garage – und ist doch ein Zuhause.
Ich trete näher. Innen ist es eng, aber sauber. Die Luft ist stickig. Eine junge Mutter steht an einem kleinen Holzofen. Ihre drei Kinder stehen vor der Hütte, eines spielt mit einer leeren Plastikflasche. Zsolt steht neben mir. Er schaut nicht direkt hin, sondern irgendwohin in die Ferne.
„Wir waren im Winter hier“, sagt er leise. „Damals lag der Schnee kniehoch. Es war stockdunkel in der Hütte. Die Kinder saßen auf dem Bett, in Jacken.“
Ich trete hinaus und sehe es plötzlich: Nur wenige Meter entfernt ragt ein graues Umspannwerk in den Himmel. Der Strom ist zum Greifen nah – sichtbar, massiv, real. Und doch bleibt er unerreichbar. Kein Anschluss. Kein Licht. Kein warmes Wasser. Der Strom wird zum Symbol für alles, was fehlt – obwohl es da ist.
Jetzt ist Sommer. Die Sonne steht hoch, flimmert über den Feldern. Die Hitze sammelt sich zwischen den Hütten. Auch Wasser ist knapp. Wieder denke ich: Wie geht das – Tag für Tag?
Und dann schleicht sich ein Gedanke ein, der mich seither nicht mehr verlässt. Er taucht immer wieder auf, ruhig, aber eindringlich. Auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe:
Was wäre, wenn Jennys Team nicht da wäre?
Wer würde diese Orte erreichen?
Wer würde zuhören – und bleiben?
Wer würde all das sehen, was sonst niemand sehen will?
Die Kinderhilfe Siebenbürgen kennt ihre Namen, ihre Sorgen, ihre stillen Rufe. Es sind Geschichten, die sonst niemand hören würde.
Und genau deshalb müssen sie erzählt werden.
Jenseits der Grenze
Am Vorabend schreibt mir Jenny: „Morgen ist eine Fahrt nach Ighis geplant. Bitte komm um zehn Uhr zum Lidl in Șelimbar.“
Am Morgen treffe ich dort auf das gesamte Team vom Vortag – diesmal mit zwei Fahrzeugen. Die Stimmung ist konzentriert, niemand redet viel. Alex geht kurz den Ablauf mit mir durch: ein Großeinkauf steht an. Die Zeit ist knapp – die Fahrt nach Ighis dauert über eine Stunde.

Drinnen im Discounter füllen wir mehrere Einkaufswagen – Grundnahrungsmittel, haltbar, notwendig. An der Kasse stapeln sich die Kartons, draußen werden sie in große Plastiktaschen umgepackt. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, es ist heiß. Der Parkplatz flimmert. Niemand beschwert sich. Am Ende stehen 30 Taschen bereit – gefüllt mit dem, was Familien für die kommenden Wochen brauchen, um durchzuhalten.
„Der Hinweis kam vom Jugendamt“, erzählt Alex
Ein erster Besuch vor einigen Wochen hatte das Team tief getroffen – und das, obwohl sie so vieles kennen. Doch Armut hat viele Gesichter, und manche treffen härter als andere. „Das läuft alles neben unserer regulären Arbeit. Aber wie sollen wir da einfach wegsehen?“, fragt Alex und blickt in den Laderaum. Der Einkauf an diesem Tag: 1.650 Euro. Eine Fahrt wie diese findet alle drei Wochen statt – möglich nur durch Spenden. Und selbst das reicht oft kaum.
Die Preise im Supermarkt unterscheiden sich kaum von denen in Deutschland. Doch während deutsche Haushalte im Schnitt rund 12 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben, sind es in Rumänien etwa doppelt so viel – rund 25 Prozent. Für viele Familien bedeutet das: Jeder Einkauf ist eine Rechnung gegen den Mangel.
Als wir Ighis erreichen, stehen schon viele Menschen an der unbefestigten Straße. Sie kommen näher, erzählen, zeigen, deuten. Eine Frau führt uns zu einer kleinen Behausung – kaum mehr als ein Raum, notdürftig verschlossen. Sie steht dort, zitternd, und erzählt. Ihre Stimme bricht. Dann weint sie.
Hier hat sie mit ihren Kindern gelebt. Ohne Strom. Ohne Ofen. Ohne Wasser. Der Raum war ihr Zuhause – erhellt von Kerzen, beheizt mit einem selbstgebauten Ofen. Dann kam das Feuer. Zwei ihrer Kinder starben in den Flammen. Ich sehe Zsolt an. Er sagt nichts. Er muss es nicht. Brände wie diese sind keine Seltenheit – verursacht durch defekte Kabel, improvisierte Öfen, schiere Verzweiflung.
Ich muss schwer schlucken, wende mich ab. Schweige. Es gibt nichts zu sagen. Neben mir steht Tabita. Sie hält zwei der Kleinsten an den Händen. Dann blickt sie zu mir und sagt leise: „Es ist Zeit. Wir müssen die Lebensmittel verteilen.“
Wir gehen los. Keine großen Worte. Jeder Handgriff sitzt. Die Taschen wandern vom Kofferraum in Hände, von Händen zu Hauseingängen. Manche Kinder lachen, andere schauen nur. Ich hebe meine Kamera, mache Bilder. Dann lasse ich sie wieder sinken – manche Momente wirken zu intim. Und zwischen all den Gesten liegt etwas, das sich kaum benennen lässt – vielleicht Würde. Vielleicht Hoffnung. Vielleicht einfach: ein Moment, in dem niemand allein ist.

Am Rand der Zeit
Vor ein paar Tagen hatte Jenny Rasche eine kleine Spendenaktion gestartet – mit einem einfachen, aber berührenden Ziel: möglichst vielen Kindern eine Melone zu schenken. Kein großes Projekt, keine langfristige Maßnahme – einfach ein süßes, rundes Stück Sommer, das für einen Moment Leichtigkeit bringen sollte.
An diesem Morgen wurde kräftig angepackt. Die Autos mussten beladen werden – Dutzende schwere Melonen, die bald Freude bringen würden. Während Giorgiana, Raluca und Darius in einem Team unterwegs waren, fuhr ich gemeinsam mit Alex und Zsolt nach Turnu Roșu.
Die Sonne stand schon hoch, als wir ankamen. Man konnte den Menschen die Hitze ansehen – und gleichzeitig die leise Hoffnung in ihren Gesichtern, dass jemand gekommen war, um ihnen zuzuhören. Und vielleicht auch einfach: um etwas Gutes zu bringen. Die Kinder strahlten, manche hielten ihre Melonen wie einen Schatz im Arm. Es war, als hätten sie ein Versprechen bekommen – dass heute ein guter Tag werden könnte.
Turnu Roșu war mir vertraut. Ich war in der Vergangenheit schon öfter mit Jennys Team hier gewesen. Und doch – jeder Besuch erzählt eine andere Geschichte, jede Begegnung hinterlässt neue Spuren. Es dauerte nicht lange, bis wir von mehreren älteren Menschen angesprochen wurden. Ihre Sorgen unterschieden sich kaum von denen der Jüngeren – Hunger, Einsamkeit, Krankheit. Aber bei ihnen wiegen diese Sorgen schwerer. Sie haben Jahrzehnte damit gelebt, oft ohne Pause, ohne Hilfe, ohne Aussicht auf Veränderung.
Eine alte Frau bat uns, sie zu begleiten. Sie ging langsam, stützte sich auf einen dünnen Stock. Ihre Schritte wirkten entschlossen, aber brüchig. Ich fragte mich, wie oft sie diesen Weg noch würde gehen können.
Ihre Hütte war klein, aufgeräumt, ordentlich. Doch was fehlte, war alles, was den Alltag im Alter leichter macht: keine Gehhilfe, kein Pflegebett, kein Rollstuhl. Dinge, die bei uns selbstverständlich wären – und hier einen Unterschied zwischen Würde und täglichem Überleben bedeuten.
Alex und Zsolt hörten ihr lange zu, notierten sich alles, versprachen zurückzukehren. Es war kein schneller Trost – aber ein echtes Versprechen.

Ich trat nach draußen, atmete tief ein. Auf dem kleinen Vorhof flatterten ein paar Socken an einer Wäscheleine – sie waren geflickt, manche durchlöchert. Ich blieb einen Moment stehen und schaute zu. Es war ein stilles Bild, aber eines, das mehr sagte als Worte es könnten.
Wir fuhren weiter. Weitere Dörfer warteten. Weitere Geschichten. Weitere Leben, die erzählen wollten. Aber die Gedanken an die alten Menschen in diesen Hütten – und die Socken an der Leine – blieben bei mir.
Abschied ohne Punkt
Am nächsten Morgen verlasse ich Rumänien. Kein großes Finale, kein letzter Blick aus dramaturgisch perfekter Perspektive. Nur ein einfacher Morgen, ein Flughafen, ein müder Himmel über Sibiu. Ich schaue hinaus aus dem Fenster des Flugzeugs. Die Felder ziehen vorbei, dann die Stadt. Vertraut, fremd, widersprüchlich wie immer. Was ich mitnehme, passt nicht in einen Koffer. Es sind Bilder, Stimmen, Gesten. Und Fragen, auf die es keine schnellen Antworten gibt. Vielleicht ist das der Sinn dieser Reise gewesen: nicht alles zu verstehen, aber nicht wegzusehen. Was bleibt, ist das Gefühl, dass jedes Zuhören zählt. Jede Geste. Jede Geschichte, die erzählt – und gehört – wird. Ohne Jenny Rasche und die Kinderhilfe Siebenbürgen blieben viele der Menschen unsichtbar. Sie erinnern uns daran, wie wichtig es ist, zuzuhören, hinzuschauen – und nicht wegzusehen.
Und dass es manchmal genügt, da zu sein. Wirklich da.
