von Ron Weimann
Die Reise beginnt
Es ist etwa 09:30 Uhr, die Sonne scheint, als unser Transport nach Rumänien startet. Nach vier Stunden Verzögerung rollen wir endlich los – vor uns liegt eine lange Reise quer durch Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien. Unser Gespann, beladen mit 1,5 Tonnen Hilfsgütern, darf nicht schneller als 80 km/h fahren. 1.800 Kilometer liegen vor uns – im Gepäck: knapp 100 Feuerlöscher, medizinische Heil- und Hilfsmittel, Kinderkleidung und Spielzeug.
Unser Ziel: Sibiu, eine Stadt in Siebenbürgen, am Rande der Karpaten. Sie gilt als eine der schönsten Städte Rumäniens und lockt jedes Jahr tausende deutsche Touristen an. Doch wir reisen nicht dorthin, um Urlaub zu machen. Unser Ziel ist die „Kinderhilfe Siebenbürgen“, eine Hilfsorganisation, die dringend benötigte Unterstützung für bedürftige Kinder in der Region leistet.
Die Stimmung im Team ist zu Beginn etwas angespannt – kostbare Stunden fehlen uns, um die erste Etappe wie geplant zu schaffen. Die ungarische Grenze müssen wir unbedingt noch vor 22:00 Uhr passieren. Doch Michael Dohmen, der erste Fahrer des Gespanns, bleibt ruhig und versucht, die Stimmung aufzulockern. Mit einem Lächeln erzählt er, wie der 16-jährige Linus Kerkhoff, der Jüngste im Team, es geschafft hat, die defekte Beleuchtung am sieben Meter langen Anhänger zu reparieren. Auch Hubert Beckfeld, Dohmens Onkel, ist wieder dabei – als helfende Hand und treuer Begleiter. Beide Männer kenne ich bereits von unserer letzten Reise. Sie arbeiten perfekt eingespielt zusammen und meistern selbst kleine Meinungsverschiedenheiten mit Gelassenheit und einem Augenzwinkern.
Die Fahrt bis zur ungarischen Grenze zieht sich in die Länge, verläuft jedoch wider Erwarten reibungslos, und wir erreichen unser Hotel für die Nacht pünktlich. Die Anspannung der letzten Stunden fällt allmählich ab, und im Team macht sich Erleichterung breit. Bei einem Bier sitzen wir noch zusammen und besprechen den nächsten Tag. Die Strecke durch Rumänien wird anspruchsvoller: schmale Straßen, kurvenreiche Passagen und stundenlanges Fahren durch ländliche Regionen erwarten uns.Doch trotz der bevorstehenden Herausforderungen bleibt die Stimmung optimistisch. Linus, der Jüngste im Team, sprüht vor Energie und Tatendrang. Für ihn ist diese Reise ein Abenteuer, während die erfahrenen Teammitglieder wie Michael und Hubert genau wissen, wie wichtig es ist, auf alles vorbereitet zu sein. „Morgen wird’s anstrengend, aber wir schaffen das“, sagt Hubert und grinst in die Runde.
Am nächsten Morgen, die Sonne geht gerade auf, sitzen wir wieder im Auto. Ausgeruht und mit neuem Elan werden die Gespräche lebendiger, aber im Hinterkopf bleibt die Sorge: Die Grenze zwischen Ungarn und Rumänien liegt nur noch wenige Stunden vor uns. Aus Erfahrung wissen die beiden Heinsberger, dass es dort Probleme geben kann – Probleme, die eigentlich gar keine sein sollten – schließlich transportieren wir nur humanitäre Hilfsgüter.
Kurz vor dem Grenzübergang Nadlac halten wir noch einmal an. Sorgfältig überprüfen wir den sicheren Sitz unserer Ladung. Die Spanngurte werden nachgezogen, die Abdeckplane fixiert – und dann hoffen wir das Beste. Die Kontrolle an der Grenze zieht sich in die Länge. Nervös beobachten wir die Beamten, die unsere Papiere prüfen. Unsere Ladung hingegen – wird nicht beachtet. Zum Glück geht alles glatt – mit einem Nicken werden wir durchgewunken. Erleichterung macht sich breit. „Das lief besser als gedacht“, sagt Michael und atmet tief durch, während wir wieder auf die Autobahn einbiegen.
Die Landschaft verändert sich allmählich. Die flachen Felder weichen sanften Hügeln, und die Straßen werden enger. Rumänien zeigt sich von seiner ländlichen Seite: abgelegene Dörfer mit kleinen, bunten Häusern, weite Felder und dichte Wälder begleiten uns. Der Verkehr wird spärlicher, und es fühlt sich an, als würden wir in eine andere Zeit reisen. Immer wieder sehen wir kleine Stände am Straßenrand, an denen selbstgemachter Käse und Würste angeboten werden. Alte Pferdekutschen bremsen den modernen Verkehr, und am Horizont erheben sich die Ausläufer der Karpaten.
Es ist später Nachmittag, als wir endlich das Lagerhaus der Kinderhilfe Siebenbürgen in Sibiu erreichen. Wie beim letzten Mal begrüßt uns Alex Kanap herzlich. „Jenny lässt sich entschuldigen, sie musste zu einem Notfall – sie kommt später dazu“, erklärt er, während wir die Spenden entladen. Nach getaner Arbeit, machen wir uns auf den Weg in die Innenstadt. In einem gemütlichen Café treffen wir schließlich Jenny, die Leiterin der Kinderhilfe, die uns mit einem warmen Lächeln begrüßt. „Schön, dass ihr da seid“, sagt sie, während wir uns an einen der Tische setzen. Bei einer Tasse Kaffee besprechen wir die nächsten Tage: die Verteilung der Feuerlöscher, Besuche in verschiedenen Roma-Siedlungen und die dringendsten Problemfälle. Doch trotz der täglichen Herausforderungen bleibt Jenny optimistisch. Sie erzählt von kleinen und großen Erfolgen: „Es ist ein langer Weg, aber wir sehen, dass die Hilfe ankommt. Einige der Kinder, die vor Jahren noch ohne Perspektive waren, gehen jetzt zur Schule und haben eine Chance auf eine bessere Zukunft.“
Jenny umarmt herzlich die Kellnerin, als wir uns für den heutigen Tag verabschieden, und erklärt uns, dass die meisten Ärzte in Rumänien unterbezahlt sind. „Sie ist eigentlich Kinderärztin“, sagt Jenny mit einem bedauernden Blick, „aber das Geld reicht vorne und hinten nicht, also muss sie zusätzlich als Kellnerin arbeiten.“
Hinter verschlossenen Türen
Am nächsten Tag brechen wir auf, um zwei Roma-Siedlungen zu besuchen. Diese Dörfer haben im Vergleich zu anderen Orten etwas bessere Bedingungen: Es gibt Strom und fließendes Wasser, doch die Armut bleibt allgegenwärtig und sichtbar. Die Straßen sind unbefestigt, die kleinen Häuser wirken improvisiert und notdürftig zusammengezimmert. Doch die Menschen empfangen uns freundlich, und die Kinder versammeln sich neugierig um uns. Zuerst verteilen wir Süßigkeiten an die Kleinsten.
Dann wird es praktisch: Michael und Linus erklären den Erwachsenen die Handhabung der mitgebrachten Feuerlöscher. In diesen abgelegenen Dörfern kann man sich nicht auf die Feuerwehr verlassen, die oft nicht kommt, wenn ein Brand ausbricht. Deshalb müssen die Familien lernen, sich selbst zu schützen. Zwei Kinder dürfen schließlich unter Anleitung ein von den Helfern kontrolliert entfachtes Feuer löschen. Ihre Freude und der Stolz, es geschafft zu haben, sind in ihren Gesichtern zu sehen – wahrscheinlich ein seltener Moment des Selbstvertrauens.
Nach der Verteilung der Feuerlöscher führt mich Jenny zu den Orten, wo die Armut besonders deutlich wird. In einer winzigen, baufälligen Hütte treffen wir eine 76-jährige Frau, die trotz ihres Alters und der harten Lebensumstände ihren Alltag irgendwie meistert. Ich steige über mehrere zusammengelegte Steine, die als provisorische Treppe dienen, und betrete die kleine Hütte. Ein einfacher Holzofen steht in der Ecke, darüber hängt Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt ist. Daneben ein improvisiertes Regal mit eingelegten Früchten und Gemüse, das den bescheidenen Vorrat der Frau zeigt. Ich frage Jenny, was passieren würde, wenn die alte Dame pflegebedürftig wird. „Nichts wird passieren“, antwortet Jenny mit einem schweren Ton in der Stimme. „Sie kann sich keine Pflege leisten. Die Kosten sind viel zu hoch für jemanden in ihrer Lage.“ Sie fährt fort: „Selbst wenn sie einen Rollstuhl oder einen Rollator hätte, könnte sie das Haus nicht verlassen. Die Treppe ist nur ein Hindernis – es gibt auch keine befestigten Straßen. Hier ist jede Bewegung, jeder
Schritt eine Herausforderung.“ Ich bitte Jenny, die Dame zu fragen, ob ich sie fotografieren darf. Nachdem Jenny übersetzt hat, nickt die Frau, richtet sich stolz auf und blickt traurig lächelnd in die Kamera.
Auf dem Weg zur nächsten Hütte schildert mir Jenny die schwierige familiäre Situation, die kaum dramatischer sein könnte. Die kleine Hütte ist schlicht und notdürftig ausgestattet. Strom bezieht die Familie über provisorisch verlegte Kabel von den Nachbarn. Das Dach, eine improvisierte Konstruktion aus Wellblech, alten Hölzern und Ziegeln, ist undicht und lässt Regen ungehindert eindringen.
Maria, eine 56-jährige Frau, lebt hier mit ihrem Neffen Christi und ihrem Mann. Ihre ganze Liebe gilt Christi, der bei ihr in Pflege lebt, seit sein Bruder Mario von seinem Stiefvater am Boiler erhängt wurde. Maria hat den Jungen eigentlich von Anfang an großgezogen, da sie selbst keine Kinder bekommen kann. Er ist der Neffe ihres Mannes. Ich schaue zu Christi hinüber. Er liegt auf einem Bett, hat seinen Kopf auf seine Arme gestützt und lächelt mich mit seinen intelligenten Augen an. In seinem Blick liegt sowohl eine kindliche Neugier als auch eine Reife, die sein junges Alter kaum erahnen lässt. Das einzige Einkommen der Familie besteht aus dem Pflegegeld für Christi und dem Verdienst ihres Mannes als Tagelöhner. Doch als wäre die Situation nicht schon schwierig genug, leidet Maria an Krebs.
Dank der Kinderhilfe konnten die Kosten ihrer Krankenkasse nachbezahlt werden, was ihr eine Chemotherapie ermöglichte. Doch viele ihrer Medikamente muss sie selbst bezahlen, und an manchen Tagen lebt sie ohne die dringend benötigten Schmerzmittel. „Wir schicken in solchen Fällen unsere Krankenschwester, die dann zumindest den Schmerz ein wenig lindern kann. Außerdem überwachen wir den Schulbesuch von Christi und sorgen für Kontakt mit seiner Schwester, die bei uns im Kinderhaus lebt“, erklärt mir Jenny.
Ich bedanke mich bei der Familie dafür, dass ich als Fremder einen Einblick in ihre Situation erhalten durfte, und verlasse mit der Leiterin der Kinderhilfe die kleine Behausung. Jenny blickt nachdenklich die Straße entlang, wo es viele solcher Hütten gibt, hinter deren Türen unzählige ungehörte Schicksale verborgen sind: „Maria ist eine der stärksten Frauen, die ich je kennenlernen durfte, sagt sie nachdenklich. Trotz des unaufhörlichen Schmerzes versucht sie, für Christi zu lächeln und ihm die Stabilität zu bieten, die er so dringend braucht.“
Gedanken
Der Tag geht langsam zu Ende, und wir verabschieden uns für den heutigen Tag von Jenny und ihrem Team. Während wir etwa 45 Minuten zurück in die Innenstadt von Sibiu fahren, verschwinden die unbefahrbaren Straßen und die Zeichen der Armut langsam aus unserem Blick. Vor uns breitet sich wieder das moderne Rumänien aus – eine lebendige Stadt mit Restaurants, Geschäften und gepflegten Häusern. Es ist, als wären wir in eine andere Welt zurückgekehrt, obwohl die Realität dieser Menschen nur wenige Kilometer entfernt liegt.
Am Abend sitze ich in unserem kleinen, aber gemütlichen Apartment und lasse den Tag gedanklich an mir vorbeiziehen. Vor mir liegen die Bilder des Tages und ich versuche, meine Eindrücke in Worte zu fassen, doch es gelingt mir nicht. Es ist schwer, das Gesehene zu verarbeiten und in meinem Kopf eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was ich heute erlebt habe, und dem, wie wir hier und in Deutschland leben. Es fühlt sich irgendwie falsch an – die Diskrepanz ist so groß, dass sie nicht mehr in Worte zu fassen ist. Die Distanz zwischen Arm und Reich ist nicht in Zahlen messbar; sie wird zur emotionalen Kluft. Die Ungerechtigkeit ist greifbar, und ich frage mich, wie zwei Welten, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt existieren, so grundverschieden sein können. Die Antworten auf meine Fragen sollten nicht lange auf sich warten lassen – schon wenige Tage später sollten wir erfahren, dass es noch härter kommen kann. Doch bevor diese Realität uns erneut einholt, stand erst einmal ein ganz anderes Thema auf dem Plan: der Erste-Hilfe-Kurs für die Mitarbeiter der Kinderhilfe Siebenbürgen.
Hilfe zur Selbsthilfe
Während ich die Zeit nutzte, um Fotos zu sortieren und Notizen zu überarbeiten, lag der Fokus des Tages auf einem Erste-Hilfe-Kurs, den Michael Dohmen mit Unterstützung von Linus durchführte. Die beiden hatten die Aufgabe, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinderhilfe Siebenbürgen e.V. in den grundlegenden Maßnahmen der Ersten Hilfe zu schulen. Dieser Kurs war besonders wichtig, da er nicht nur den Alltag der Mitarbeitenden erleichtert, sondern auch die Sicherheit der Kinder, die sie betreuen, erhöht.
Der Tag brachte jedoch eine zusätzliche Herausforderung mit sich: Temperaturen weit über dreißig Grad. Die stickige Luft machte es den Teilnehmenden nicht leicht, konzentriert zu bleiben. Dennoch meisterten Michael und Linus die Situation mit ihrer gewohnt gelassenen und humorvollen Art. Michael verstand es, den Kurs trotz der Hitze aufzulockern und die Teilnehmenden immer wieder zum Lachen zu bringen. Diese humorvolle Herangehensweise half, die drückende Hitze fast vergessen zu machen und die Motivation aufrechtzuerhalten.
Zu den Teilnehmern zählten auch einige Krankenschwestern, die während des Kurses viel Neues lernten. Die Diskrepanz in der medizinischen Bildung und den Kenntnissen, die in verschiedenen Teilen Europas vorherrschen, wurde dabei besonders deutlich. Während die Krankenschwestern in anderen Regionen möglicherweise schon weitreichende Kenntnisse in Erster Hilfe haben, waren diese Grundkenntnisse für manche hier noch neu. Das zeigt, wie unterschiedlich der Bildungsstand innerhalb Europas sein kann und wie wichtig es ist, Wissen und Ressourcen zu teilen, um überall ein höheres Sicherheitsniveau zu gewährleisten.
Auch heute übernahm Jenny die Rolle der Übersetzerin. Trotz ihres vollen Terminkalenders und der unzähligen Aufgaben, die sie stets im Hinterkopf hat, war sie auch an diesem Tag mit vollem Einsatz dabei. Ihr Telefon – stets griffbereit – klingelte unaufhörlich und erinnerte daran, wie viele Baustellen sie gleichzeitig bewältigen muss. Doch selbst in diesem hektischen Alltag nahm sie sich die Zeit für uns und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dabei strahlt sie eine Ruhe und Präsenz aus, die beeindruckt, während ihre Augen immer wieder zur Uhr wandern. Trotz des ständigen Drucks schafft sie es, jedem Gespräch ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken und dabei die Bedürfnisse aller im Blick zu behalten.
Der Kurs verlief erfolgreich und die Erleichterung war den Teilnehmenden anzusehen. Besonders in einer Region, in der schnelle medizinische Hilfe oft nicht rechtzeitig zur Verfügung steht, ist es entscheidend, dass die Menschen wissen, wie sie sich selbst und anderen in Notfällen helfen können.
Făgăraș
Heute ist es wieder unerträglich heiß. Die Temperaturen sind weiter gestiegen, und die Sonne brennt vom Himmel, als wir Jenny auf einer ihrer Touren begleiten. Unser Ziel: Făgăraș. Die Stadt liegt in der Region Brașov, einer malerischen Gegend Rumäniens – zumindest auf den Postkarten. Doch sobald man in die Stadtteile fährt, die für Touristen unsichtbar bleiben sollen, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Nach zwei Stunden Fahrt steigen wir aus dem Auto, als Jenny auf einen „Wohnblock“ zeigt: „Dort drüben, dieser Block wird von Menschen bewohnt.“ Ich folge ihrem Blick und kann kaum glauben, dass sie dieses Gebäude meint. Irritiert frage ich noch einmal nach, aber sie nickt nur stumm. Ohne ein weiteres Wort gehen wir auf das Bauwerk zu. Die Straßen sind fast menschenleer, der Müll türmt sich in den Straßen. Der große, verfallene Häuserblock vor mir erinnert mich an meine Reisen im Kriegsgebiet der Ukraine. Die Fassade ist stellenweise abgebrochen und schwarz verbrannt, viele Fenster fehlen oder sind zerbrochen. Es ist schwer vorstellbar, dass hier Menschen leben.
Wir stehen noch draußen, als eine junge Frau nach Jenny ruft und uns hereinbittet. „Frau Jenny, Sie können ruhig hineingehen. Der Geruch kommt von der kaputten Kanalisation.“ Madalina, so stellt sich die Frau vor, erklärt uns das mit einer resignierten Selbstverständlichkeit, während wir das Haus betreten. Der beißende Gestank dringt sofort in unsere Nasen und lässt uns reflexartig die Luft anhalten. Ich werfe einen Blick in die langen Flure, die nur von einer flackernden Glühbirne spärlich beleuchtet werden. In manchen Bereichen fällt Tageslicht durch die offenen Türrahmen, wo Türen fehlen. Schatten huschen durch die Gänge – Menschen, die neugierig aus ihren Wohnungen spähen und sich schnell wieder zurückziehen. Wir gehen vorsichtig die Stufen hinauf, tasten uns instinktiv am bröckelnden Mauerwerk entlang – ein Treppengeländer fehlt. Kinder kommen uns laut lachend entgegen und rennen an uns vorbei. Ihre Unbeschwertheit steht in einem seltsamen Kontrast zu der Umgebung, in der sie leben müssen. Jeder Schritt hallt in dem kargen Treppenhaus wider, und das dumpfe Echo verstärkt mein mulmiges Gefühl. Das gesamte Szenario wirkt dystopisch, wie aus einem Albtraum, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Unbehagen breitet sich in mir aus, als würde ich eine unsichtbare Last mit mir tragen. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass es hier um mehr geht als um einfache Armut – es ist, als wäre die Hoffnung selbst zerbrochen.
Ich bin unsicher, ob ich hier fotografieren darf. Die Menschen leben unter Bedingungen, die sie wahrscheinlich selbst nicht gern dokumentiert sehen – vielleicht aus Scham, vielleicht weil sie es einfach leid sind, zur Schau gestellt zu werden. Ich wende mich an Jenny, die meine Bedenken sofort versteht. Sie fragt behutsam nach, übersetzt simultan die Antworten. Ein Nicken, ein leises „Es ist okay“ – das Einverständnis liegt vor. Trotzdem bleibt das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten. Ich hebe immer wieder die Kamera, zögere, senke sie. In diesen Momenten wird mir bewusst, wie sensibel der Grat ist, auf dem ich mich bewege – zwischen der Pflicht, die Realität sichtbar zu machen, und dem Respekt vor der Würde der Menschen, die in ihr leben.
Jenny bittet uns, ihr zu folgen. Wir lernen Marinela kennen, die Mutter von Madalina. Sie bittet uns in ihre kleine Wohnung und zeigt uns stolz ihr kleines Domizil in dem sie alles menschenmögliche versucht hat, um Gemütlichkeit zu schaffen. An den Wänden hängen kleine Bilder von ihren Kindern und Enkeln, die liebevoll in einfachen Rahmen präsentiert werden. Es sind Erinnerungen an glückliche Momente, eingefangen inmitten einer oft harten Realität. Traditionelle rumänische Wandteppiche schmücken die kleine Wohnung und sogar ein eigenes Badezimmer gehört zu ihrem Zuhause – ein Luxus, der hier keineswegs selbstverständlich ist. Doch es bleibt ungenutzt, da weder die Wasserversorgung noch die Kanalisation funktioniert. Wasser bekommen die hier lebenden Menschen von einer Wasserstelle vor dem Block.
„Diese Situation zieht sich nun schon seit zehn Jahren hin,“ erzählt Marinela mit einem resignierten Lächeln. In all dieser Zeit hat sich nichts verändert. Besonders in den kalten Monaten stellt das Heizen eine große Herausforderung dar. Überall in den Wohnblöcken sieht man selbstgebaute Schornsteine, die als provisorische Rohre aus den Fenstern abgeleitet wurden. In der Not haben die Menschen kleine Holzöfen in ihren Wohnungen installiert, obwohl dies eigentlich nicht erlaubt ist. Es ist eine Verzweiflungstat – ein gefährlicher Balanceakt zwischen Überleben und den Risiken, die diese improvisierten Heizsysteme mit sich bringen. Die Schornsteine der Blocks müssten von einer Firma regelmäßig gereinigt werden, doch niemand kann sich das leisten.
Jenny zeigt mit dem Finger aus dem Fenster. Draußen steht ein großer Bagger, der begonnen hat, das Erdreich umzuwälzen. „Schau mal“, sagt sie, „da drüben fangen sie an zu bauen.“ Die ersten Bauarbeiten für vier neue Sozialblöcke haben begonnen. Auf einem großen Schild steht das Projektziel: Es sollen nZEB-Sozialwohnungen entstehen – energieeffiziente Gebäude, die jungen Menschen aus gefährdeten Gruppen ein Zuhause bieten sollen, gefördert von der Europäischen Union im Rahmen der Initiative „Die nächste EU-Generation“. Insgesamt sind 64 Wohneinheiten geplant, verteilt auf vier Blöcke. Jeder Block soll 16 Wohnungen umfassen, eine Mischung aus 12 Studios und 52 Zwei-Zimmer-Apartments. Auf den ersten Blick klingt das vielversprechend, doch für Marinela und ihre Familie scheint dieses Projekt in weiter Ferne.
Marinela holt einen alten Kaufvertrag hervor und zeigt ihn uns. „Diese Wohnung hier habe ich vor langer Zeit gekauft“, erzählt sie. „Ich habe gehungert, um das Geld dafür zusammenzubekommen. Seitdem ist sie unser Eigentum.“ Doch die Aussicht auf die neuen Wohnungen bringt mehr Sorgen als Hoffnung. „Jetzt wurde gesagt, dass der Block abgerissen wird und wir eine neue Wohnung im Neubau bekommen sollen. Aber ich weiß nicht, ob sie uns dann gehört oder nicht.“Mit brüchiger Stimme fährt sie fort: „Man kam von der Stadt und erklärte uns, dass wir nur dann eine neue Wohnung bekommen, wenn wir die Grundsteuern nachzahlen. In meinem Fall sind das 7.500 Lei – (1500 Euro) ein Vermögen. Oft haben wir nicht genug zu essen, wie sollen wir das bezahlen?“
Jenny erzählt uns, dass auch Romafamilien aus anderen Gegenden hier angesiedelt werden sollen. Marinela bestätigt das und fügt mit besorgter Miene hinzu: „Es wurde uns gesagt, dass hier mehrere Blöcke entstehen und dann Roma auch aus den Siedlungen am Stadtrand hierher umgesiedelt werden sollen. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Es wird viele Streitigkeiten geben, alle sind arm und haben ihre eigenen Probleme. Ich möchte mir das gar nicht ausmalen.“
Tatsächlich gab es in der Vergangenheit mehrere Fälle. Ein Beispiel dafür ist der Ort Miercurea Ciuc, wo Roma in ärmliche und abgelegene Gegenden verdrängt wurden – oft ohne ausreichende Infrastruktur, manchmal in Randgebieten von Städten oder auf brachliegendem Land. Solche Praktiken wurden wiederholt von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert und verurteilt. Diese Umsiedlungen führen häufig zu noch größerer Isolation und Diskriminierung der betroffenen Roma- Gemeinschaften, die bereits unter prekären Bedingungen leben. Am Ende des Besuchs bleibt das Gefühl, dass die Situation der Menschen in Făgăraș symptomatisch für viele Regionen in Rumänien ist. Es sind nicht nur materielle Güter, die fehlen, sondern auch die Perspektive auf eine bessere Zukunft.
Der Bürgermeister von Făgăraș, Gheorghe Sucaciu, erklärte kürzlich in einem Interview: „Ich verstehe die Situation der jungen Menschen, die sich in einer prekären Situation befinden, voll und ganz, und deshalb leiten wir zusammen mit dem spezialisierten Apparat des Rathauses von Făgăraș und mit der Unterstützung meiner Kollegen und der höheren Foren der Sozialdemokratischen Partei konkrete Aktionen ein, um ihnen einen besseren Lebensstandard zu bieten. Ich plane die Umsetzung mehrerer Projekte, die darauf abzielen, die Lebensqualität junger Menschen aus Făgăraș zu verbessern. Das Projekt im Combinat-Viertel ist nur eines davon.“
Ob die von Bürgermeister Sucaciu angekündigten Projekte tatsächlich eine Veränderung bewirken werden, bleibt abzuwarten. Doch eines ist sicher: Er wird sich an seinen Worten messen lassen müssen – denn die Menschen von Făgăraș warten nicht nur auf Hilfe, sondern auf eine echte Chance auf ein besseres Leben.
Foto / Bericht: Ron Weimann